© Matthias Nemmert

Alles zwingt zur Veränderung | Rubrik Klimaschutz
Ausgabe 2022 | Text: Christina Mothwurf, Fotos: © Matthias Nemmert

Bis 2050 sollen die Pariser Klimaziele in trockenen Tüchern liegen – und damit die globale Erwärmung gestoppt werden. Die renommierte Klimaforscherin Helga Kromp-Kolb skizziert, wie realistisch diese Ziele aus heutiger Sicht sind und welchen Beitrag die Bauwirtschaft für eine nachhaltige Zukunft werden.

Wenn es um Klimaschutz geht, weiß sie ganz genau, wovon sie spricht: Helga Kromp-Kolb ist nicht nur Meteorologin, sondern auch versierte Klimaforscherin und gern gesehene Gesprächspartnerin. Und: Sie ist eine, die sich nicht scheut, auch unbequeme Wahrheiten auf den Tisch zu legen.

MASSIV! INSIDE: BIS 2040 SOLLEN WIR DIE PARISER KLIMAZIELE ERREICHEN – GLEICHZEITIG ZEICHNEN DERZEITIGE ENTWICKLUNGEN EIN EHER DÜSTERES BILD. WELCHE SZENARIEN SIND AUS IHRER SICHT DERZEIT AM BEDROHLICHSTEN?

Helga Kromp-Kolb: Am bedrohlichsten ist es, wenn wir das Pariser Klimaziel und damit den menschengemachten globalen Temperaturanstieg von 1,5 Grad Celsius nicht einhalten können. Es gibt selbstverstärkende Prozesse in der Atmosphäre und wenn die eine gewisse Dynamik entwickelt haben, dann sind sie nicht mehr zu bremsen – jedenfalls nicht mehr durch Menschen. Wir wissen nicht genau, wann sie einsetzen und wie rasch sie sich entwickeln, aber wenn wir die 1,5 Grad deutlich überschreiten, könnten wir in einen Zustand kommen, den wir ‚hot house earth‘ nennen. Sobald wir in diesem Modus sind, können Nullemissionen die ständige Erwärmung maximal verzögern, aber nicht stoppen. Und das ist etwas, das ethisch nicht vertretbar ist: Den nächsten Generationen einen Planeten zu übergeben, der ständig wärmer wird. Das ist ein extrem bedrohliches Szenario. Und wir können nicht ausschließen, dass wir in diesen Zustand kommen.

KANN MAN DIESEN ZEITPUNKT VORAUSSAGEN?

Der Zeitpunkt ist gar nicht so schwer vorauszusagen. Wir stehen derzeit bei 1,2 Grad Erwärmung im globalen Mittel – und im System stecken schon die nächsten Zehntelgrad. Wir haben wirklich keinen Spielraum mehr: Wir müssten in diesem Jahrzehnt – also bis 2030 – die so oft propagierten minus 50 Prozent Treibhausgasemissionen erreichen.

IST AUS JETZIGER SICHT NOCH REALISTISCH, DASS DIE KLIMAZIELE DER EU ÜBERHAUPT ERREICHT WERDEN KÖNNEN?

Wenn Sie jemanden ertrinken sehen in der Donau, dann fangen Sie auch nicht an, zu rechnen, ob es sich noch ausgeht, dass Sie hinschwimmen. Sie werden’s versuchen. Und genau so ist es in dieser Sache: Man kann nicht wissen, welche Kräfte Sie noch entwickeln, um den Ertrinkenden zu retten. Es gibt erstaunliche Geschichten, wo Menschen ganz Großartiges leisten, weil sie einfach die Notwendigkeit sehen. Und wenn wir den Klimaschutz als Notwendigkeit sehen, dann können wir das auch schaffen.

IST VERZICHT EINER DER WESENTLICHSTEN PUNKTE DABEI?

Aus moralischen Gründen wird jetzt der Ausstieg aus russischem Gas gefordert – nüchtern betrachtet muss man sagen: Das ist einfach nicht realistisch. Aus meiner Sicht ist es natürlich diskutabel, ob das moralisch gerechtfertigt ist oder nicht. Aber im Falle des Klimawandels, wo es darum geht, dass wir eine Welt hinterlassen, die letztlich das Ende für die menschliche Zivilisation bedeutet, da denke ich, wäre so manches gerechtfertigt, was man an Mühsal, Veränderung und Umdenken auf sich nimmt. Das Schöne ist aber, dass die Veränderung im Grunde genommen positiv sein kann. Es kann besser werden! Besser im Sinn von gerechter für alle, ein befriedigendes Leben und weniger Hetzjagd. Und alles das kann man mit Klimaschutz erreichen.

WIE STEHT ES UM DAS OFT GEHÖRTE ARGUMENT, EIN EINZELNER KÖNNE WENIG BEITRAGEN UND WESENTLICHE ENTSCHEIDUNGEN MÜSSTEN AN ANDERER STELLE GETROFFEN WERDEN?

Es braucht beides, also ein Zusammenwirken von Entscheidungsträgern und den Einzelnen. Das Problem ist, man schupft sich jetzt gegenseitig den Ball zu. Die Politik sagt, der Einzelne muss und der Einzelne sag, die Politik muss. Für viele Dinge braucht es allerdings die passenden Rahmenbedingungen. Ich kann nicht erwarten, dass sich Menschen dauerhaft für Sachen entscheiden, die umständlicher, unbequemer, teurer oder unattraktiver sind. Das halten manche durch, aber sicher nicht die Mehrheit. Und das hält man eine Zeit lang durch, aber sicher nicht für immer. Deswegen müssen die Rahmenbedingungen so verändert werden, dass das klimafreundliche Handeln das Selbstverständliche wird, weil es attraktiver, billiger, schöner und bequemer ist. Und das ist Aufgabe der Politik. Sie muss aber spüren, dass ihre Wähler*innen das wollen.

WELCHE MASSNAHMEN WÄREN LEICHT UMZUSETZEN?

Ganz klar die Einführung eines Tempolimits. Das würde uns nicht nur bei der russischen Gasfrage entgegenkommen, sondern auch für den Klimawandel viel bringen. Anders sehe ich es in Sachen Citymaut: Grundsätzlich ein gutes Instrument, aber finanzielle Maßnahmen sind nicht immer die Lösung. Die bedeuten nämlich, dass diejenigen, die nicht aufs Geld schauen müssen, sich’s leisten können. Und andere, die aufs Geld schauen, diese Möglichkeit nicht haben. Verbote und Gebote sind demokratischer, weil sie schlichtweg für alle gelten. Das heißt nicht, dass Verbote aus meiner Sicht immer die Mittel der Wahl sind – es braucht ein ausgewogenes Verhältnis. Aber Sachen, die grundlegend sind für Menschen sollten nicht über Finanzen geregelt werden. Das gilt auch für Energie- und Wasserpreise. Hier könnte es beispielsweise ein Grundkontingent geben, das nach Personen berechnet pro Haushalt zur Verfügung steht – eventuell auch gratis. Und wenn dieses Grundkontingent überschritten wird, muss man dafür zahlen: je mehr, desto teurer pro Einheit. Das wären Ansätze, die nicht nur inhaltlich gerechtfertigt, sondern auch gerecht im Sinne der Gesellschaft wären.

MÜSSEN FLUGPREISE DAMIT IN JEDEM FALL WIEDER TEURER WERDEN?

Aus meiner Sicht: Unbedingt. Kurzstreckenflüge sollten überhaupt unterbleiben. Ich kann mir auch ein Flugkilometerkontingent pro Person vorstellen, das nicht überschritten werden darf, es sei denn, man kauft jemandem anderen sein Kontingent ab. Und wenn jemand glaubt, er muss ins Weltall fliegen, soll er wirklich blechen. Diese Emissionen sind so überflüssig, dass man dafür einen hohen Preis zahlen sollte.

WAS MUSS UND KANN DIE BAUWIRTSCHAFT BEITRAGEN, UM DEN KLIMAWANDEL AUFZUHALTEN?

Das ist natürlich hart für den Sektor, aber im Grunde genommen müssten wir den Fokus vom Neubau weglenken und das gesamte Augenmerk auf den Bereich der Sanierung richten. Das heißt: Gebäude klimafit machen, optimal dämmen, sowohl für den Sommer als auch den Winter,

Heizsysteme anpassen und langfristige Nutzung fördern. Natürlich ist es für Architekten viel lustiger, ein Haus auf der grünen Wiese zu planen. Aber es ist viel herausfordernder, ein bestehendes Haus einer klimagerechten Nutzung zuzuführen. Die Bauwirtschaft muss diese Herausforderung sehen und verstärkt den Bereich der Sanierung forcieren. Es gibt unglaublich viele Leerstände – das sind die Bereiche, wo die Bauwirtschaft sich hineinknien sollte. Denn sie muss sich überlegen: Was ist noch gerechtfertigt zu bauen? Natürlich gibt es Bereiche, wo es nicht anders geht. Aber aus meiner Sicht – und aus Klimasicht – muss es die absolute Ausnahme sein. Und wenn, dann so, dass eine Wiedernutzung erleichtert wird.

„Es gibt unglaublich viele Leerstände – das sind die Bereiche, wo die Bauwirtschaft sich hineinknien sollte.“

GERADE IM BEREICH DER SANIERUNG ODER BEI DER REZYKLIERBARKEIT HABEN MASSIVE BAUSTOFFE JA GROSSE VORTEILE.

Ja, aber die Baustoffindustrie muss bei ihren Produkten dafür sorgen, dass diese in einen recycelbaren Zustand kommen. Die Trennbarkeit muss mitgeplant und ordentlich dokumentiert werden – und das ist eine Riesenherausforderung, weil es Richtlinien braucht, damit alle Beteiligten verstehen, was sie beachten müssen, damit die Kreislaufwirtschaft im Bau funktionieren kann.

WELCHEN STELLENWERT HAT DIE BAUWIRTSCHAFT IM VERGLEICH ZUM VERKEHR?

Der Impact im Bereich Verkehr ist natürlich größer, die Bauwirtschaft wird allerdings unterschätzt. Entweder man beachtet nur die Emissionen aus dem Energieaufwand im Betrieb ohne die vorgelagerten Emissionen oder man betrachtet nur diese. Aber in Wirklichkeit braucht es ein Gesamtbild – wo und wie gebaut wird –, denn das entscheidet, wieviel zusätzliche Infrastruktur und wieviel Energie gebraucht wird. Und womit gebaut wird – sozusagen der Fußabdruck, der dem Haus zugerechnet werden muss. Und dann hängt es natürlich davon ab: Wie lang hält das Gebäude? Die Vorteile der massiven Baustoffe liegen in der Langlebigkeit, man könnte sie immer wieder neu nutzen. Vorausgesetzt, die Gebäude werden möglichst lang genutzt und dann umund notfalls abgebaut – nicht abgerissen, was noch immer viel zu oft passiert.

BRAUCHT ES EINE AUSGEWOGENE MISCHUNG AUS BAUSTOFFEN?

Wir tun so, als ob wir unbegrenzt Holz hätten. Wir haben aber nicht unbegrenzt Holz. Und wir müssen schauen, dass wir es sinnvoll einsetzen. Zu propagieren, dass alle Häuser aus Holz sind, wird sich ohne massives Aufforstungsprogramm nicht ausgehen. Es braucht vernünftige Kombinationen: Es geht hier nicht um entweder oder, sondern um ein Miteinander. Bei erneuerbaren Energien ist das ähnlich: Es wird Wind gegen Solar oder Solar gegen Biomasse ausgespielt – das ist unsinnig! Es gibt überall Bereiche, wo die einzelnen Rohstoffe wirklich gut eingesetzt sind und man fast keine Alternativen hat – dort soll man sie verwenden und nicht ständig streiten. Wenn wir nicht anfangen, quer- und baustoffübergreifend zu denken, werden wir nicht weiterkommen.

SOLL HEISSEN: ES BRAUCHT MEHR INTERDISZIPLINARITÄT?

Unbedingt! Wenn’s ums Bauen geht, muss man auch die Nutzer miteinbeziehen – vom ersten Grundriss bis zur finalen Raumplanung. Es braucht ein breiteres Denken. Und das entsteht nicht zuletzt dadurch, dass man auch Beteiligte fragt, Bürgerinnen und Bürger miteinbezieht. Beteiligung ist ein wesentlicher Faktor, weil hier Themen oder Bedenken zutage gefördert werden, die sonst übersehen werden können. Worum es letztlich geht, ist ein gemeinsames Bemühen um gute, klimafreundliche Lösungen.

IST DIE BERECHNUNG EINES CO2-ABDRUCKS VON PRODUKTEN IM BAU DABEI SINNVOLL?

Transparenz ist ganz wesentlich. Allerdings muss man dabei überlegt vorgehen, schließlich hat dasselbe Produkt an unterschiedlichen Produktionsstandorten nicht denselben Fußabdruck. Ich glaube, dass sich diesbezüglich rasch sehr viel tun wird. Im internationalen Vergleich hinkt Österreich hinsichtlich Klimabewusstsein und Maßnahmen sehr hinterher, weil viele immer noch glauben, um des kurzfristigen Profites willen in einer freien Marktwirtschaft einen geschützten Raum schaffen zu müssen – und das passt nicht zusammen. Wenn man verschläft, was sich international tut – und da sind wir in Österreich drauf und dran – werden wir rasch den Anschluss verpassen.

VON WEM KÖNNTEN WIR UNS ETWAS ABSCHAUEN?

Von unterschiedlichen Ländern Unterschiedliches. Bei der Gebäudenutzung, Quartierbildung und Wiederbelebung sind Benelux-Staaten und die Schweiz gute Vorbilder. Zürich setzt z. B. sehr lange schon eine sehr restriktive Maximalanzahl von Abstellplätzen für Autos um, die davon abhängt, wie nah der öffentliche Verkehr ist – das würde unglaublich viel Fläche sparen und auch Geld in der Errichtung sparen, weil Garagen teuer sind. Oder im Bereich der Flächenversiegelung: Rastersteine sind hier gute Alternativen bei der Umsetzung von Parkflächen. Auch Kleinstwohnungen oder Gemeinschaftswohnen – mit Rückzugsräumen für die Einzelnen, aber gemeinsamer Nutzung von Spielzimmer, Werkstatt, Küche etc.

WIE STEHT ES UM DIE BIODIVERSITÄT IN ÖSTERREICH? WIE KANN SIE GEFÖRDERT WERDEN?

In Österreich sind wir in Sachen Biodiversität in vielen Bereichen säumig. Die negativen Auswirkungen der enormen Flächenversiegelung in Österreich liegen auf der Hand. Gebäude können aber Biodiversität auch fördern. Wir wissen, dass Städte sehr biodivers sein können, wenn die Gebäude die Möglichkeiten schaffen. Zum Beispiel Nistplätze für Vögel oder Fledermäuse und Behausungen für Insekten. Durch unseren Garten ziehen zum Beispiel Fuchs und Dachs auf ihren Streifzügen.

WAS MUSS UNBEDINGT PASSIEREN, DAMIT WIR FÜR DIE KOMMENDEN GENERATIONEN EINEN LEBENSWERTEN PLANETEN HINTERLASSEN?

Wir müssen jetzt umdenken, wir haben keine Zeit mehr für den nächsten ‚leichten‘ Schritt. Die Überlegungen müssen sein: Was bedeutet das Pariser Ziel bzw. Netto-Null 2040 für mich? Wie kann ich das möglich machen? In der Mobilität heißt das z. B., dass 2040 etwa 90 Prozent der Autos nicht mehr auf den Straßen unterwegs sein dürfen. Wir können auch ausrechnen, wieviele Kilometer jeder einzelne dann noch fahren darf – das sind im Pkw praktisch null. Aus meiner Sicht ist es absolut unverständlich, wie man auf eine Stadtautobahn bestehen kann, die niemand mehr nutzen wird, auch nicht mit dem Elektroauto. E-Mobilität ist Teil der Lösung, aber es kann nicht sein, dass jedes Auto durch ein E-Auto ersetzt wird. Wir müssen nach Möglichkeit zu Fuß gehen, Rad fahren oder den öffentlichen Verkehr nutzen. Und wenn wir wirklich ein Auto brauchen, auf Carsharing zurückgreifen. Das hat natürlich auch Auswirkungen auf das Bauwesen.

WENN SIE EINEN WUNSCH FREI HÄTTEN: WAS MUSS DER BAUSEKTOR ALS ERSTES ZUR ERREICHUNG DER KLIMAZIELE UMSETZEN?

Im Baustoffbereich gibt es viele Möglichkeiten und Notwendigkeiten – wichtig ist das Umdenken: Welches ist der für den jeweiligen Zweck bestgeeignete Baustoff in Hinblick auf Netto-Null? In der Bautätigkeit muss es den besprochenen Fokus auf Sanierung und ein umfassendes Neudenken – von der Planung, über die Nutzung bis zum Umund Rückbau – geben. Gebäude müssen so gebaut werden, dass sie ohne Abriss unterschiedlichen Nutzungen zugeführt werden können. Das sollten mittlerweile Selbstverständlichkeiten sein – schon in der Planung. Mein Wunsch wäre, dass sich die Branche ein konkretes Ziel setzt und ihren Beitrag leistet. Nicht mit der Frage: Was können wir beitragen? sondern: Was MUSS unser Beitrag sein? Wie kommen wir auf Netto-Null? Und was ist dazu notwendig? Aktiv zu werden, statt zu warten, dass es der Gesetzgeber oder der Auftraggeber fordert. Auf Input von außen zu warten, ist nämlich nur eine Zeit lang eine gemütliche passive Haltung. Sie kann für uns alle recht schnell sehr ungemütlich werden.